Nordpatagonien


Eine fotografische Reise durch Chiles Süden

von: Markus Thek
Südpatagonien mit dem Torres del Paine-Nationalpark und seinen berühmten Bergen fehlt in kaum einem Angebot einschlägiger Tour-Anbieter. Der Norden hingegen wird weit weniger häufig bereist. Zu Unrecht findet Markus Thek, der mit seinen Bildern aus dem chilenischen Teil Nordpatagoniens zeigt, dass sich auch hier reichlich spektakuläre Landschaften entdecken lassen.

Der Sonnenaufgang ist vorbei und nun schimmert das Wasser der Laguna Conguillío tiefblau im schräg einfallenden Sonnenlicht. Hoch oben auf dem Aussichtspfad blicke ich in die Tiefe, Wind zieht vom Bergsee hinauf und streicht durch das Geäst alter Araukarien-Bäume, einer Art, die es schon vor Jahrmillionen auf dem Urkontinent Gondwana gab. Girlanden aus Flechten und Bambus zieren das dichte Unterholz. Magellanspechte klettern auf alten Stämmen, springen von Baum zu Baum und klopfen rhythmisch an den Rinden.
Rechts von mir führt ein Pfad entlang beachtlicher Araukarien und Südbuchen steil bis zum Gletscher „Sierra Nevada“ hinauf – mit Sicht auf den Vulkan Llaima, einen 3.125 Meter hohen und auffallend aktiven Feuerberg in Nordpatagonien. Ich befinde mich in Südchile, in einem der spekta­kulärsten Schutzgebiete der Region: Im Conguillío-Nationalpark.
So wie das restliche Patagonien, liegt auch Nordpatagonien sowohl in Chile als auch in Argentinien. Auf der chilenischen Seite zieht sich dieser sagenumwobene Landstrich beginnend vom Fluss Río Bío Bío in Richtung Süden bis ungefähr ins chilenische Seengebiet. Düster erscheinende Vulkane, smaragdblaue Seen und Märchenwälder bilden hier das Gegenstück zum sturmgepeitschten, kaltgemäßigten und gut 1.300 Kilometer weiter südlicher gelegenen Süd-Patagonien. Die Entfernung entspricht der Strecke von Mailand bis Südschweden. Von Südpatagonien haben bestimmt viele gehört, denn dort befinden sich Berge wie der Fitz Roy, die Torres del Paine oder der Cerro Torre. Doch dieser Beitrag handelt vom Norden Patagoniens, dem in Europa unbekannteren Patagonien.

Der Nationalpark Conguillío

Ein Trip zum Nationalpark Conguillío ist wie eine Zeitreise in eine Millionen Jahre alte, archaische Epoche. Der auch unter dem Namen „Los Paraguas“ (die Regenschirme) bekannte Park rund um den Vulkan Llaima wurde zum Schutz der zahlreichen großen Araukarien mit ihren schirmförmigen Kronen errichtet. Mit einer Fläche von 60.833 Hektar ist der in den Anden gelegene Park mehr als doppelt so groß wie beispielsweise der Nationalpark Bayerischer Wald.
Hier kann der Besucher auf gut ausgebauten Wegen durch frühgeschichtliche Landschaften wandern, denn Araukarien, die es fast unverändert seit der Zeit der Dinosaurier gibt, gelten als lebende Fossilien, Relikte des Urkontinents Gondwana. Daneben finden sich im Schutzgebiet auch gewaltige Südbuchenbestände, die mitunter ein Alter von tausend Jahren aufweisen.
Klare Flüsse durchschneiden die Landschaft, und Seen wie die Laguna Captrén, der Lago Conguillío oder die Laguna Verde wecken einen paradiesischen Eindruck.
Bei einem Ausbruch im Jahr 1994 entstand ein weiteres Gewässer: die kleine Laguna Arco Iris, die durch einen Lavadamm zu einem See aufgestaut wurde. Bei der großen Eruption im Januar 2008 dagegen sorgte eine 3.000 Meter hohe Rauchsäule für ein gigantisches Naturschauspiel.
Noch vor Sonnenaufgang durchstreife ich den Urwald, um einen baumfreien Bergrücken aus erstarrter Lava zu erreichen. Ich fixiere die Kamera auf dem Stativ. Die Morgendämmerung enthüllt zunehmend die Landschaft: den mit schwarzgrauer Basaltlava bedeckten Boden und die tiefgrünen Wälder. Meine Blicke schweifen zum bedrohlich wirkenden Llaima, jenem Vulkan dessen Lavaströme im Zuge der letzten Ausbrüche tiefe Schneisen in den Urwald zogen. In diesen zungenförmigen Waldlichtungen stehen noch heute große Baumskelette, stille Zeugen eines Desasters.
Als ich nach dem Fotografieren bei einem Felsbrocken Rast mache, um zu frühstücken, gleitet ein Andenkondor im Tiefflug über mich hinweg. Vor mir liegt ein einzigartiges Panorama aus Wäldern, Bergseen, Lavafeldern und Vulkanen. Auch die Tierwelt zeigt sich in diesem von landschaft­lichen Superlativen geprägten Gebiet von ihrer spannenden Seite. Puma und Andenschakal sind hier ebenso zu Hause wie das Viscacha, eine Nagetiertierart aus der Familie der Chinchillas, und der Pudu, eine ausgesprochen kleine Hirschart, kaum größer als ein Hase

Der Vulkan Villarrica

3.600 Menschen wurden anlässlich der letzten großen Eruption vom 3. März 2015 evakuiert. Die danach monatelange andauernde erhöhte Aktivität führte fast täglich zu hohen Rauchsäulen und dem Austreten flüssiger Lava.
Dieses andauernde Schauspiel fesselte mich so sehr, dass ich eine Exkursion in die Villa­rrica-Region einplante. Der schneebedeckte, konische Gipfel des Vulkans ist schon von weitem ein Blickfang, besonders durch die vom Krater senkrecht aufsteigenden Rauchsäulen.
Es fängt schon an zu dämmern, als ich mit meinem Teleobjektiv aus sicherer Entfernung fotografiere. Da nun auch das letzte Licht zur Neige geht, denn mittlerweile ist auch die Blaue Stunde fast vorbei, beträgt die Belichtungszeit stattliche 179 Sekunden, wodurch das Glühen des Magma-Sees im Kraters in der Aufnahme sichtbar wird. Zum Glück ist es windstill!

Der Nationalpark Alerce Coster

Südlich der von deutschsprachigen Auswanderern der 1850er Jahre geprägten Stadt Valdivia liegt der Nationalpark Alerce Costero. Die Stadt selbst besticht durch Holzbauten, Museen und einen großen Fischmarkt, der im Zentrum des Ortes direkt bei einem Fluss liegt. Im Wasser tummeln sich Mähnenrobben, ideal um sich vor einer Exkursion mit der Kamera warm zu schießen.
Hier in Valdivia wurde am 22. Mai 1960 das bisher stärkste Erdbeben weltweit gemessen. Es traf die Region mit einer Stärke von 9,5 auf der Richterskala. Ein zerstörerischer Tsunami entwickelte sich und 40 Prozent der Gebäude der Stadt wurden zerstört. Viele Inseln im Pazifik wurden von der Flutwelle getroffen.
Der Nationalpark Alerce Costero ist ein Zusammenschluss mehrerer Schutzgebiete wie unter anderem dem Reserva Nacional de Valdivia sowie dem Monumento Natural Alerce Costero. Hier im Wald befindet sich eine Patagonische Zypresse, die auf über 3.500 Jahre geschätzt wird!

Das chilenische Seengebiet

Mein nächstes Ziel ist der perfekt konische Osorno, der östlich des Sees Llanquihue thront. Die Sicht auf den 2.652 Meter hohen Feuerberg reizt bereits aus der Ferne. Am Südufer des riesigen Sees erhebt sich der etwas kleinere Vulkan Calbuco. Seine Konturen erscheinen unauffällig, dafür aber ist er für seine Sprengkraft bekannt: Am 22. April 2015 sorgte ein explosionsartiger Ausbruch des Calbuco für eine 15 Kilometer hohe Aschewolke, die noch dazu bei Sonnenuntergang rot angeleuchtet wurde. Lava floss in großen Mengen aus dem Krater und im Umkreis von 30 Kilometern sorgte ein Ascheregen für 50 Zentimeter hohen Niederschlag.
Am Ostufer des Llanquihue-Sees liegt der Nationalpark Vicente Pérez Rosales, der 1926 gegründet wurde und zu den ältesten Nationalparks Südamerikas zählt. Das vom Vulkan Osorno gekrönte Schutzgebiet zählt mit einer Fläche von 251.000 Hektar zu den größten Chiles. Gemeinsam mit dem etwas weiter nördlich liegenden Park Puyehue sowie den argentinischen Nationalparks Lanín und Nahuel Huapi ist der Vicente Pérez Rosales-Nationalpark Teil eines enormen, grenzüberschreitenden Schutzgebietes in Nordpatagonien. Ein
Eldorado für Naturliebhaber. Durch die geringe Höhenlage und die zahlreichen Niederschläge ist die Landschaft des Nationalpark vorwiegend vom Valdivianischen Regenwald geprägt. Immergrüne Südbuchenarten sind hier charakteristisch. In den höheren Lagen befindet sich eine Übergangszone vom lorbeerblättrigen zu einem Nadelholz-Wald. Herausragend sind hier im wahrsten Sinne des Wortes die bis zu 50 Meter hohen Patagonischen Zypressen oder Alerces, wie sie in Chile genannt werden. Es ist eine extrem langsam wachsende und sehr langlebige Zedernart

Es fallen Schüsse

Spät abends fahre ich im Dunkeln zum Parkplatz der Wasserfälle Saltos del Petrohué. Es sind die bekannten Stromschnellen nahe dem Vulkan Osorno. Mein Plan ist, die Gegend auszukundschaften, um bei besseren Lichtverhältnissen zurückzukehren und zu fotografieren. Ich werde langsamer, erblicke den Parkplatz und halte den Wagen an. Ruhig steige ich aus und schließe die Autotür. Keine Menschenseele befindet sich auf dem Areal, lediglich geschlossene Souvenirläden erkenne ich im Finstern. Daneben befindet sich eine Türe mit einem dahinter liegenden Pfad, der offenbar zu den Wasserfällen führt. Doch die Tür ist verschlossen und wahrscheinlich nur tagsüber passierbar. Ich vernehme das Rauschen der Kaskaden, ansonsten herrscht Waldesruhe.
Doch dann wird die Stille abrupt unterbrochen: Unmittelbar neben mir fallen lautstark zwei Schüsse. Mein Atem stockt und mein Brustkorb verkrampft schmerzend. Ein Mann erscheint aus der Dunkelheit, Hunde bellen laut. Was zunächst nach einem Attentat aussieht wird zu einem nächtlichen Gespräch, so weit es meine erhöhte Atemfrequenz zulässt …
Der Mann wohnt in einem alleinstehenden Holzhaus, gegenüber den Wasserfällen, am Waldrand. Er sei hier der Wächter und patrouilliere jede Nacht auf dem Parkplatz, denn in den letzten Monaten hätte es mehrere Einbrüche in die Läden gegeben, so der Mann. Da mein Spanisch nicht akzentfrei ist, weiß er, dass ich hier Gast und kein Dieb bin. Der Dialog wird von Minute zu Minute freundlicher und am Ende erhalte ich obendrein Tipps zu Foto-Locations.
Ein paar Tage nach diesem Erlebnis fotografiere ich letztendlich doch noch die Saltos del Petrohué. Die Kaskaden in der wilden Basaltlandschaft und dem dahinter liegenden, erhabenen Osorno ergibt ein Traum-Sujet. Nach den Saltos del Petrohué erkunde ich den Bergsee Todos los Santos, den „Allerheiligensee“. Grün schimmernd schmiegt er sich zwischen die von dichtem Wald bedeckten Berge. Natur pur, denn es führt keine Straße um den See.
An der Westküste des Sees beginne ich ein Tagestrekking. Auf schwarzem Sand wandere ich entlang des Wassers mit beeindruckender Aussicht auf die Insel Margarita und die Hochanden, bis der Weg durch Valdivianischen Regenwald führt. Ich atme frische Waldluft, Baumriesen werfen Schatten und Farn verdunkelt das Unterholz. Bis zu 4.000 Millimeter Niederschlag im Jahr tragen zu dieser üppigen Vegetation bei. Als der Weg mich wieder aus dem Dschungel heraus führt, präsentiert sich vor meinen Augen ein herrliches Panorama: der Lago Todos los Santos umgeben von drei Vulkangipfeln, dem Osorno im Westen dem Puntiagudo im Norden und dem Tronador im Osten. Während der Osorno seit 2012 wieder erhöhte Aktivität zeigt, gelten die beiden anderen Vulkane derzeit als erloschen

Die Insel Chiloé

Schon die Überfahrt mit der Fähre vom Festland nach Chacao wird zum Abenteuer: Peales-Delphine und Pinguine begleiten das Boot. Knapp 30 Kilometer südwestlich der Küstenstadt Ancud liegt die Pinguin-Bucht „Monumento natural Islotes de Puñihuil“. Sie bietet besonders Tierfotografen reizvolle Foto-Möglichkeiten, denn auf den vorgelagerten, felsigen Inseln brüten sowohl Humboldt- als auch Magellan-Pinguine. Es ist der einzig bekannte Ort in ganz Chile an welchem beide Arten gleichzeitig brüten. Zudem lebt auch der seltene Küstenotter auf den kleinen Eilanden.
Die Schotterstraße endet bei einer weiten Sandbucht mit drei Restaurants, gesäumt mit Fähnchen und Werbetafeln, die auf Bootsfahrten zur Insel aufmerksam machen. Hier verbringe ich einige Tage bevor es in Richtung Süden zu den Dünenlandschaften von Chepu weiter geht. Wind formt dort bis weit ins Landesinnere regelmäßig
geordnete Wellen im Sand, die besonders bei tief stehender Sonne fotogene Schatten werfen. Im Nationalpark Chiloé wandere ich ab Cucao bis zum „Cole-Cole Strand“, eine 20 Kilometer-Wanderung, die an der Küste entlangführt. Kilometerlange Dünenstrände und phantastische Buchten treffen auf einen undurchdringlichen, verwachsenen Urwald. Jahrhundertealte Alercen, Südbuchen und Tepa-Gehölze bieten unbegrenzte Möglichkeiten zum Komponieren. In der Übergangszone, also dort wo der Wald beginnt, reihen sich Mammutblätter aneinander, eine Pflanze, die an Rhabarber erinnert, jedoch einen Blattdurchmesser von bis zu einem Meter hat.

Markus Thek

Der Österreicher ist Pädagoge und Naturfotograf. Er ist Mitglied des Vereins für Tier- und Naturfotografie Österreich VTNÖ und arbeitet für eine schweizerische Bildagentur. Nachdem er auf zahlreichen Reisen verschiedene Regionen Chiles erkundet hat, siedelte er dorthin über. Zwei Jahre lang wohnte er in diesem langgezogenen Andenstaat, wo er nun Foto-Touren in Nationalparks und in andere Schutzgebiete anbietet. www.markusthek.com, www.go4patagonia.photos